In diesem Jahr feiert die evangelische Kirche einen besonderen Geburtstag, ein Jubiläum:
Das evangelische Gesangbuch wird 500 Jahre. Über fünf Jahrhunderte ist es natürlich nicht das gleiche geblieben. Es wurde immer wieder revidiert, überarbeitet. Lieder, die nicht mehr im Schwange waren, wurden rausgenommen. Neue Lieder, die in Mode und Gebrauch kamen, wurden hinzugefügt. Des Liedermachens hat kein Ende. Und das hat seinen guten Grund, den wir in der Bibel finden.
Die erste biblische Erwähnung des singenden Volks Gottes steht in der Exodus Geschichte aufgeschrieben. Der ägyptische Pharao und sein hochbewaffnetes Heer wollen die israelitischen Sklaven nicht in die Freiheit ziehen lassen. Mitten in der Wüste Sinai sollen sie umgebracht werden. Am Schilfmeer erreicht das ägyptische Heer die Flüchtenden. Die Situation scheint ausweglos zu sein. Die Israeliten sind eingekesselt zwischen den wütenden Verfolgern und dem schäumenden Meer. Da handelt Gott. Er lässt einen starken Ostwind aufkommen, einen Wind aus dem Israel verheißenen Land, aus Gottes Land. Er treibt die Wassermassen zurück. Der Meeresboden wird sichtbar. Die bedrohliche Tiefe verwandelt sich in den rettenden Ausweg. Als das Volk sicher und geborgen am anderen Ufer steht,
sind die Feinde nicht mehr zu sehen. Grenzenloser Jubel bricht aus. Mose, der Anführer des Volkes, stimmt ein großes Danklied an. Mirijam, Moses Schwester, haut im wahrsten Sinne des Wortes auf die Pauke und ruft ihren Weggefährten zu:
„Lasst uns dem Herrn singen, denn er ist hoch erhaben; Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt“ (2.Mose 15,21).
Für das Judentum gehört dieses Rettungserlebnis zur grundlegenden nationalen und religiösen Identität. Es ist ein Gemeinschaftserlebnis, das alle Generationen bis heute mit dem Passafest feiern. Seit der Errettung am Roten Meer versteht man sich nicht nur als ein von Gott erschaffener Mensch, sondern auch als ein von ihm befreites Volk, dazu befreit, IHM zu dienen. Die angemessene Antwort auf Gottes Rettungstat ist das dankbare Lied der Geretteten: „Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder“ (Psalm 98,1).
Lob- und Klagelieder, Dank- und Vertrauenslieder, Klage- und Bußlieder werden seit drei Jahrtausenden von Israel seinem Gott gesungen. So entsteht der 150 Psalmen umfassende Psalter, der von den Juden bis heute im Gottesdienst – mehr – gesungen als gesprochen wird.
Diese jüdische Tradition – Gott zu singen – setzt sich im Neuen Testament fort. Dort wimmelt es von Hymnen und geistlichen Liedern. Besonders viele finden sich in der Weihnachtsgeschichte des Evangelisten Lukas. Die meisten Personen, die an der Geburt Jesu beteiligt sind, fangen dort zu singen an: Maria, Simeon, Zacharias, die Engel und die Hirten, sie alle preisen das neugeborene Kind als Retter der Welt. Und wir tun es ihnen nach mit unserem reichen Liedgut zur Advents- und Weihnachtszeit. Zu Weihnachten durchschreitet der ewige Gott die Grenze zur vergänglichen Welt. Das Wort ward Fleisch. Zu Karfreitag durchbricht Christus die Mauer des Todes und führt die Gefangenen siegreich heraus.
Wie am Schilfmeer zeigt sich am Ostermorgen der aus Todesnot rettende Gott. In Christus Jesus hat er dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium (2. Tim 1,10).
Auf diese befreiende Grenzüberschreitung antworten Menschen mit dankbarem Singen.
Der Osterjubel explodiert förmlich und entlädt sich im Singen. Im Osterjubel singt sich der Mensch aus seiner Gebundenheit an den Tod heraus, hinein in ein neues Leben, das ihm der Auferstandene vermacht. Da geschieht Grenzüberschreitung auch auf unserer Seite: Heraus aus meiner belasteten und gekränkten Person – hinein in die bergende Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott und der singenden Kirche. Das stärkt uns.
Von den ersten christlichen Gemeinden wissen wir, dass auch sie – ganz nach jüdischer Tradition, aus der sie kommen – viel gesungen haben. Von Anfang an gehörte das Singen zur DNA des christlichen Gottesdienstes. Im Kolosserbrief werden die Christen ermutigt, Gott mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern dankbar im Herzen zu singen (3,16). Bis 200 n. Chr. litten die Christen unter Verfolgungen – ehe sie dann selber zu Verfolgern wurden.
In einem Brief des römischen Gouverneurs Plinius an Kaiser Trajan – ca. 111 n.Chr. – werden die wachsenden christlichen Gemeinden kritisch beschrieben. Sie weigerten sich, die römischen Staatsgötter zu verehren. Auffallend positiv jedoch spricht der römische Beamte davon, dass die Christen „wechselweise Christus als einem Gotte Lieder singen“.
Wie beim Ein- und Ausatmen werden beim Singen zwei in Wechselwirkung zueinanderstehende Bewegungen spürbar: Ein Nehmen und Geben. Wer vom Evangelium berührt wird, antwortet wie ein Echo auf das, was er hörend empfangen hat.
Martin Luther schreibt:
„Singt dem Herrn, alle Welt. Denn Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn. Wer solchs mit Ernst gläubet, der kann’s nicht lassen. Er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es andere auch hören und herzukommen.“
So bewirkt der Glaube das Singen, und das Singen bewirkt den Glauben.
Zum Gebrauch der Orgel sei angemerkt: In unseren Tagen ist es selbstverständlich, dass sie im Gottesdienst erklingen und den Gemeindegesang begleiten soll. Das war in der frühen Kirche ganz anders. Da galt sie als Werkzeug des Teufels. Der wahnwitzige Kaiser Nero hatte Orgelmusik angeordnet, wenn die Christen im Kolosseum den Löwen zum Fraß vor geworfen wurden. Orgelmusik war die Begleitmusik der Christenverfolgung. Mit dieser dunklen Geschichte war die Orgel für lange Zeit verständlicherweise kein Instrument, das für den Gottesdienst in Frage kam. Das frühchristliche Ideal war der instrumentenlose Gottesdienst. In den orthodoxen Kirchen des Ostens ist das die Regel bis heute. Im Westen hat dagegen eine musikalische Öffnung stattgefunden. In der katholischen Kirche wurde ab dem achten Jahrhundert im Gottesdienst die Orgel verwendet.
Im Mittelalter stellten sich die Menschen Gott wie einen Krämer vor, der am Jüngsten Tag jedem das ausbezahlt, was er im Leben verdient hat. Mit einer Waage misst dieser himmlische „Kaufmann“ unsere menschlichen Taten. Daraufhin gibt er jedem »Kunden « die Belohnung für das, was er ihm mitbringt: Das Gute dem, der Gutes bringt, das Böse dem, der Böses bringt. Spannend und offen bleibt, auf welche Seite sich zum Schluss die Waage neigen wird, ob zum ewigen Leben oder zur ewigen Verdammnis. Wer mit Ernst Christ sein will, muss daher noch im irdischen Leben versuchen, seine bösen Taten mit guten Werken auszugleichen. Dabei helfen ihm die berühmtberüchtigten Ablassbriefe und der regelmäßige Besuch der Heiligen Messe. Bei jedem Empfang der heiligen Kommunion holt sich der bange Sünder ein Stück ab vom Karfreitagsopfer Christi und sammelt damit Pluspunkte für die Habenseite der Himmelswaage. Der Besuch des Gottesdienstes ist nach diesem Verständnis ein Werk, das seine Belohnung bekommt.
Der Sünder möchte sich den Eingang ins ewige Heil verdienen. Aber werden seine Verdienste ausreichen? Bleibt der Christ nicht im Ungewissen und in Höllenangst gefangen? Martin Luther hat diese Angst durch die reformatorische Wiederentdeckung des Evangeliums überwunden. Die Versöhnung zwischen Gott und den Menschen muss nicht mühevoll erwirkt werden. Sie wird jetzt tröstlich zugesprochen. Die Gewissheit, die er im Glauben an Christus gefunden hat, macht ihn frei und fröhlich. Der Gottesdienst wird so zu einem Ort der Vergewisserung und Lebensermutigung. Im Zentrum der Verkündigung steht der am Kreuz erwirkte Frieden. Und dieser Friede zwischen Gott und den Mensch wird in jedem Gottesdienst wieder zugesprochen und gefeiert.
Aus dem Ort der Arbeit um Erlösung wird ein Ort des Gesprächs mit Gott. Luther sagt: „Im Gottesdienst redet Gott mit uns durch sein Wort und Sakrament und wir mit ihm durch unser Gebet und Lobgesang.“ Damit das aber überhaupt geschehen kann, übersetzte Luther erst einmal die Bibel in die deutsche Sprache. Und dann schenkte er ihnen das evangelische Gesangbuch. Für uns heute kaum vorstellbar: Bis zur Reformation sangen die Gemeinden während des Gottesdienstes keine geistlichen Lieder in der Volkssprache. Das war nach katholischem Recht verboten. Während in der mittelalterlichen Messe nur der Klerus oder ein ausgebildeter Schülerchor – lateinisch ‐ gesungen hatte, sollte nun die ganze Gemeinde singen. Und so wurde das Singen von deutschen Texten zur tragenden Kraft des evangelischen Gottesdienstes. Mit der Entstehung des Gesangbuches öffneten Luther und andere Reformatoren den Mund der Gemeinden. Nun konnten sie dem Schöpfer für sein Evangelium singend danken.